Existenzielle Positive Psychologie: Von der Frage nach dem, was bleibt
- Mailin Modrack
- vor 2 Tagen
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„There is a crack, a crack in everything. That's how the light gets in.“
(Leonard Cohen)
Die existenzielle Positive Psychologie verbindet die tiefgreifenden Fragen des Menschseins mit der wissenschaftlichen Erforschung dessen, was ein gelingendes Leben ausmacht – dem grundständigen Forschungsansatz der Positiven Psychologie.
Gerade in Kontexten, in denen sich Menschen mit der Endlichkeit des Lebens befassen, wie in der Hospizarbeit und Palliativersorgung wird diese Verbindung sichtbar: Wenn sich das Leben einschneidend verändert oder gar endlich wird, treten Sinn, Verbundenheit, Dankbarkeit und auch Reue in besonderer Klarheit hervor.
Während die klassische klinische Psychologie sich lange darauf konzentrierte, Leid zu lindern, richtet die Positive Psychologie den Blick zusätzlich auf jene Kräfte, die Menschen in schwersten Phasen tragen: Ressourcen wie Liebe, Hoffnung, Sinn und das Gefühl, für andere bedeutsam gewesen zu sein.
5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen – Erkenntnisse von Bronnie Ware
Die australische Palliativpflegerin Bronnie Ware hat über Jahre Sterbende begleitet und Wünsche dokumentiert, die sie am häufigsten hörte. Aus der Vielzahl an Gesprächen, Gedanken und Gefühlen, die Menschen am Ende ihres Lebens teilen, extrahierte sie „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“:
Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben – nicht das, was andere von mir erwartet haben.
Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken.
Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden gehalten.
Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.
Diese Aussagen treffen den Kern existenzieller Positiver Psychologie: Ein erfülltes Leben entsteht nicht durch Perfektion, sondern durch Echtheit, Verbundenheit und die Fähigkeit, dem eigenen Inneren zuzuhören. Sie verdeutlichen ex negativo, was Menschen am Lebensende anders machen würden. Verkehren wir diese Formulierungen in einen positiven Kontext, könnten Sie lauten:
Ich wünsche dir den Mut, dein eigenes Leben zu leben.
Ich wünsche dir echte Lebenszeit, ohne zu viel zu arbeiten.
Ich wünsche dir den Mut, deine Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
Ich wünsche dir, dass du dich eingebunden und gehalten fühlst in Freundschaften, und soziales Miteinander.
Ich wünsche dir, dass du dir erlaubst, aus vollem Herzen glücklich zu sein.
In Hospiz- und Palliativkontexten, sowie nach existenziell einschneidenden Erlebnissen wie Tod, Krankheit und Verlust zeigt sich mit berührender Klarheit, was Menschen am Ende ihres Lebens wirklich trägt. Vor allem die Beziehungen werden bedeutungsvoll – das Wissen, geliebt zu haben und geliebt worden zu sein. Ebenso wächst der Wunsch nach Sinn: dem Gefühl, dass das eigene Leben eine Spur hinterlassen hat und für andere bedeutsam war. Viele berichten von einer tiefen Dankbarkeit, die sich oft nicht auf große Ereignisse richtet, sondern auf kleine, unscheinbare Momente, in denen das Wesentliche spürbar wurde.
Auch der liebevolle Blick auf sich selbst gewinnt an Bedeutung. Selbstmitgefühl wird zu einer inneren Haltung, die erlaubt, das eigene Leben nicht durch die Linse der Perfektion zu betrachten, sondern mit Verständnis und Milde. Und schließlich rückt die Authentizität in den Vordergrund: jenes stille, kraftvolle „Ja“ zu sich selbst – zu dem, was war, und zu dem, wer man geworden ist.
Hier entfaltet sich die Weisheit der zweiten Welle der Positiven Psychologie besonders deutlich: Erfüllung entsteht nicht trotz Schmerz, sondern oft durch ihn. Gerade dort, wo Leben und Endlichkeit einander berühren, zeigen sich Tiefe, Sinn und Menschlichkeit auf eine Weise, die das ganze Spektrum menschlicher Existenz umfasst.
So wird existenzielle Positive Psychologie zu einer Haltung, die Licht auch dort sucht, wo Risse sind. Denn alles Menschliche hat (auch) Risse. Und nur so kann das Licht einfallen das uns zeigt, was am Ende wirklich bleibt.
Quellen
Neff, K. (2012). Selbstmitgefühl: Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden.
Ware, B. (2011). The Top Five Regrets of the Dying: A Life Transformed by the Dearly Departing. In Medical Entomology and Zoology. https://ci.nii.ac.jp/ncid/BB14887605




