Das zwanghafte Suchen von positiven Dingen und Verdrängen negativer Emotionen nennt der Volksmund „toxische Positivität“. Damit ist eine Haltung gemeint, die den Grundgedanken der Positiven Psychologie ad absurdum führt und die Existenz negativer Phänomene negiert. Die toxische Positivität im Alltag zu entlarven ist jedoch alles andere als trivial. Denn gerade, wenn das Leben uns und unsere Lieben herausfordert, wollen uns Sätze wie: „Sieh‘s positiv!“, „Wer weiß, wofür es gut ist.“ oder „Alles wird gut.“ allzu leicht über die Lippen kommen.
Eine positive Grundhaltung wird so zum „new normal“. Ein Trend, den längst auch die Hersteller von Konsumartikeln und Popkultur aufgenommen haben. So versprechen Kalenderblätter jeden Morgen aufs Neue „Good vibes only“, Duschgels werben mit dem Prädikat „Glücksrausch“ und die „richtige Einstellung“ wird plötzlich ein übermächtiges Instrument gelingender Selbstführung.
Ergo: Das gute Leben wird omnipräsent. Optimismus zur Voraussetzung. Glück zur Devise.
Wissenschaftlich betrachtet sind es aber auch – und vielleicht gerade – Themen wie Resilienz, posttraumatisches Wachstum oder Emotionsregulation, die im Fachbereich der Positiven Psychologie zuhause sind. Umso wichtiger ist es, toxische Positivität zu identifizieren, wenn wir ihr begegnen. Helfen können dabei folgende Signale:
Tabuisierung negativer Emotionen
Vermeidung von Konflikten und herausfordernden Gesprächen
„Bright-side-Mindset“: eine permanente optimistische Grundhaltung, auch in den widrigsten Umständen
Formulierung von Floskeln wie: „Wer weiß, wofür es gut ist.“ statt echtem Zuhören
Dan Tomasulo, einer der einflussreichsten Wissenschaftler zum Thema Hoffnung, sieht noch eine zweite Komponente, die die toxische Positivität beeinflusst. „Spiritual bypassing“, übersetzt so etwas wie „spirituelles Umlenken“ bezieht sich auf ideologisch spirituelle Ansätze, die ebenfalls die Auseinandersetzung mit schwierigen Emotionen oder Lebensumständen verhindern und in eine spirituelle Erfahrung umdeuten. Nach Tomasulo handelt es sich sowohl bei der toxischen Positivität als auch beim spirituellen Umlenken um Abwehrmechanismen, die zwar Schmerz und Traumata erst einmal abmildern, uns aber auch an der ehrlichen Auseinandersetzung mit uns selbst hindern und so unser Wohlbefinden, langfristig gesehen, schwächen.
Eine andere Antwort: Akzeptanz & Aktive Auseinandersetzung
Wie also gelingt der Balanceakt zwischen einer gesunden positiven Grundhaltung und der Integration negativer Aspekte? Zwei Ideen aus der Wissenschaft sind Akzeptanz und Aktive Auseinandersetzung.
Der Ansatz, negativen Gefühlen, Situationen oder Lebenslagen erst einmal neutral zu begegnen hat seine Wurzeln im Achtsamkeitstraining. Auch therapeutische Richtungen, wie die „Acceptance-and-Commitment-Therapy“ erkennen den Mehrwert. Indem wir uns von Wertungen wie „gut“ oder „schlecht“ trennen, lösen wir gesellschaftlichen Druck und schaffen Raum für Emotionen wie Verzweiflung, Wut oder Trauer. Eine Alternative kann die Kategorie „hilfreich“ oder „nicht hilfreich“ sein – und die bringt uns oft weiter voran, denn vermeintlich „negative“ Emotionen sind gesund, indem sie unsere Psyche gesund erhalten.
Umgekehrt verstärkt das wiederholte Unterdrücken negativer Emotionen deren Intensität, wie Lea Campbell-Sills bereits 2006 in einer Studie zeigen konnte. In einem Experiment gaben Teilnehmende, nachdem sie einen traurigen Film gesehen hatten, Auskunft über ihre negativen Emotionen und ihre Strategien zur Regulation dieser. Es zeigte sich: je stärker die Teilnehmenden ihre Emotionen unterdrückten, desto intensiver wurden sie. Das Gefühl, bestimmte Emotionen seien nicht erwünscht, moderierte den Zusammenhang zwischen dem Erleben negativer Gefühle und deren Intensität.
Eine zweite Möglichkeit zum Umgang mit negativen Aspekten kennen wir als „feel it to heal it“, also der aktiven Zuwendung hin zu den schwierigen Momenten des Lebens. „Coping“, also der Umgang mit Problemen, gelingt meistens dann, wenn wir auch schwierige Situationen anerkennen und würdigen. In der Begleitung von Menschen im Kontext von Therapie und Coaching helfen hier beispielsweise Fragen wie: „Wie fühlt sich das an?“, „Was könnte dir jetzt guttun?“ und „Was brauchst du?“, oder unterstützende Worte wie: „Ich bin da.“
Auch Coaching, Therapie, Journaling oder andere Strategien der Selbstreflexion können helfen, toxischer Positivität entgegenzutreten und ein ganzheitliches Verständnis zu kultivieren. Denn zu einem erfüllten und erfüllenden Leben im Kontext der Positiven Psychologie gehören neben dem Ausbau eigener Stärken, Werte oder der Suche nach persönlichem Lebenssinn ganz maßgeblich auch die Integration vermeintlich negativer Aspekte.
„Wir hoffen, es geht euch gut. Wenn nicht – auch okay!“
Mit diesem Satz begrüßen die Moderator*innen des Podcasts „Drinnies“ ihre Hörenden. Und greifen damit einen Trend auf, der sich gerade seinen Weg bahnt: Emotionen sind immer „gut“, denn sie sind der Katalysator unseres psychischen Systems. Entscheidend ist einzig und allein, was sich für Sie – jetzt und hier – stimmig anfühlt.
Quellen:
Campbell‐Sills, L., Barlow, D. H., Brown, T. A. & Hofmann, S. (2006). Acceptability and suppression of negative emotion in anxiety and mood disorders. Emotion, 6(4), 587–595. https://doi.org/10.1037/1528-3542.6.4.587
Fredrickson, B. L. (2001): The role of positive emotions in positive psychology: The boraden-and-build theory of positive emotions. American psychologist, 56(3), 218
Hayes, S. C., Strosahl, K. & Wilson, K. G. (2003, 29. Juli). Acceptance and Commitment Therapy: An Experiential Approach to Behavior Change: The Process and Practice of Mindful Change (New edition). Guilford Publications.
Seligman, M. E. P., Steen, T. A., Park, N. & Peterson, C. (2005). Positive Psychology Progress: Empirical Validation of Interventions. American Psychologist, 60(5), 410–421. https://doi.org/10.1037/0003-066x.60.5.410
Tomasulo, D. (2024, 12. März). The Mask of Denial: Toxic Positivity and Spiritual Bypassing — DAN TOMASULO. DAN TOMASULO. https://www.dantomasulo.com/blog/toxic-positivity-and-spiritual-bypassing
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