Abraham Maslows dreiseitige Pyramide der Bedürfnisse ist unzweifelhaft eine der bekanntesten psychologischen Bilddarstellungen. Oftmals gedruckt stellt diese Pyramide psychologische Bedürfnisse wie Atmung, Ernährung und Wasser als die Basis der Pyramide dar. Zur nächsten Ebene gehören Schutz und Sicherheit. Darüber kommen dann Liebe und Zugehörigkeit. Die nächste Schicht bilden Selbstachtung und Respekt. Die Spitze gehört dann der Selbstverwirklichung. Wenn man sie einmal gesehen hat, bleibt die Darstellung der Pyramide im Gedächtnis haften. Sie ist intuitiv und einprägsam. Sie ist aber gleichzeitig irreführend. Als eine Darstellung menschlicher Bedürfnisse ist die Maslow-Pyramide in zweifacher Hinsicht falsch. Erstens ist diese Pyramidendarstellung nicht von A. Maslow und zweitens bilden die menschlichen Bedürfnisse keine Pyramide.
Die falsche Pyramide
Dr. Maslow selber hat keine Pyramide der Bedürfnisse entworfen. Als Reaktion auf die Gräuel des II. Weltkrieges wollte er eine Psychologie des menschlichen Potentials entwickeln. Das Gute in jedem von uns sollte aufgezeigt und sichtbar gemacht werden. Begreifbar sollte werden, was Menschen letztlich benötigen, um aufzublühen.
Wie auch immer ist die Form einer Pyramide in den Aufzeichnungen von A. Maslow nicht zu finden. Es war eine Gruppe von Management-Theoretikern, die in den 50er und 60er Jahren die Pyramide entworfen haben, um eine Gedächtnishilfe für Manager zu schaffen, die einprägsam verdeutlichen sollte, wie ein Maximum von Motivation zu geringsten Kosten erzielt werden kann.
Darüber hinausgehend hat die Wissenschaftsgemeinde der Psychologie schon seit Jahrzehnten erkannt, dass die Menschen zwar psychologische Bedürfnisse haben, sich diese aber nicht in einer klaren Hierarchie arrangieren lassen. Darüber hinaus wurde die Liste von Bedürfnissen, die A. Maslow aufgestellt hat, mit neuen Sichtweisen hinterfragt. Sie wurde dabei stärker durch empirische Erkenntnisse abgestützt.
Der gesunde Kern der Theologie
Der Psychologe Dr. Scott Barry Kaufman hat in seinem Beitrag auf dem 7. Kongress der International Positive Psychology Association (IPPA) im vergangenen Monat herausgearbeitet, was uns die Theorie von A. Maslow noch heute sagen kann. Ihm geht es darum, uns auf den gesunden Kern der Theorie zu konzentrieren. Gleichzeitig soll das Erbe von A. Maslow mit den neuen Erkenntnissen verbunden werden, die die empirische psychologische Forschung in den vergangenen Jahrzehnten zusammengetragen hat.
Dr. Kaufmann weist darauf hin, dass A. Maslow mit seiner Feststellung, dass es zwei Typen von Bedürfnissen gibt, die wir unterscheiden können, richtigliegt.
Da sind zuerst die sogenannten Defizitbedürfnisse. Sie bestimmen unsere Motivation. Sie überlagern jegliche höheren Bedürfnisse, wenn sie dringend nicht befriedigt werden können. Wenn ich unter Wasser bin und keine Luft mehr bekomme, denke ich nicht an Selbstverwirklichung, sondern nur daran, wieder atmen zu können. Je prekärer ein physisches Bedürfnis wird, umso stärker beschäftigt es unseren Verstand. So ist Hunger eine starke Motivation. Aber wenn mein Zugang zu Wasser, Nahrung und Wohnraum gesichert ist, denke ich nicht viel darüber nach. Diese sogenannten Defizitbedürfnisse treten hauptsächlich in Erscheinung, wenn man sie nicht befriedigen kann.
Die menschliche Existenz ist aber nicht auf einen passiven Blindwiderstand auf Defizite zu reduzieren. Ab einem bestimmten Stand der ökonomischen und kulturellen Entwicklung reduziert sich menschliches Leben nicht auf Überlebenskampf. Die Menschen sind dann aktiv und wachstumsorientiert. Sie suchen nach Herausforderungen, um ihr volles Potential auszuschöpfen. Eine menschliche Existenz, deren Grundbedürfnisse befriedigt ist, hat die Tendenz nach Selbstentfaltung.
Wechselwirkung von Defizit- und Wachstumsbedürfnissen
In diesem Streben, uns selbst zu verwirklichen, sind wir nach A. Maslow von Wachstumsbedürfnissen geleitet. Wo Defizitbedürfnisse durch Sorge und Ängste sowie dem Bestreben, sie zu befriedigen, angetrieben werden, ziehen uns Wachstumsbedürfnisse dorthin, wo wir etwas finden, das faszinierend und wertvoll ist. Diese Bedürfnisse sind die Quellen von inhärenter Erfüllung, zu denen es uns zieht, wenn wir uns nicht um das nackte Überleben kümmern müssen.
Die klassische Dreieckspyramide bringt diese zentrale Unterscheidung zwischen den beiden Arten von Bedürfnissen und ihre Wechselwirkung nur unzureichend zum Ausdruck. An ihrer Stelle schlägt Dr. Kaufman zum besseren Verständnis das Bild eines Segelbootes vor. Danach ist Leben kein Projekt oder ein Wettbewerb. Es ist eine Reise, bei der man einen großen blauen Ozean durchmisst. Diese Reise ist voller neuer Gelegenheiten für Sinnfindung und Entdeckungen. Sie ist aber gleichzeitig voller Gefahren und Unwägbarkeiten.
Der Bootskörper hält uns über Wasser. Er schützt uns vor den heranbrausenden Wellen. Dieser Bootskörper repräsentiert gewissermaßen die Defizitbedürfnisse, die entscheidend für unser Überleben sind. Kaufmann benennt drei solcher Bedürfnisse. Am Anfang steht sich sicher zu fühlen. An zweiter Stelle ist das Gefühl, dass wir irgendwo dazugehören und von anderen nicht abgelehnt werden. Ein drittes Bedürfnis dieser Art ist der Schutz unserer Selbstachtung. Mit anderen Worten haben wir das Bedürfnis, uns im physischen und im interpersonellen Bereich sowie in den Beziehungen zu uns selbst sicher zu fühlen.
Nach Auffassung von Dr. Kaufman ist es aber für wirkliche Bewegung nicht genug, einen schützenden Bootskörper zu haben. Was wir weiter tun müssen, ist unser Segel setzen und es zu wagen, das Leben anzunehmen und unsere Anstrengungen darauf zu richten, uns zu verwirklichen.
Hinsichtlich der Wachstumsbedürfnisse benennt Scott Barry Kaufman wieder drei Begriffe. Das sind aus seiner Sicht Erkundung, Liebe und Zweck. Wir erkunden unsere Umgebung mit Vergnügen. Wir streben nach dem Gefühl eines tiefen Sinnes von Verbindung und Liebe mit anderen. Wir setzen uns Ziele, die es wert sind, unsere Aktivitäten in Schwung zu bringen. Bei dieser Art der Bedürfnisse geht es nicht darum, eine Pyramide zu erklimmen. Bei ihnen geht es im Grunde darum, sich dem Leben zu öffnen. Es geht um das Wagnis, das Leben als eine Suche zu betrachten.
Die Hinterlassenschaft von Maslow besteht u.a. darin, für eine Kultur und Institutionen zu kämpfen, die die Fähigkeit von jeden von uns unterstützen, zu wachsen und das Beste aus unserem Leben und uns als Persönlichkeiten zu machen.
Quellen:
Bridgman, T., Cummings, S., & Ballard, J. (2018). Who Built Maslow’s Pyramid? A History of the Creation of Management Studies’ Most Famous Symbol and Its Implications for Management Education. Academy of Management Learning & Education, 18(1), 81–98.
Kaufman, S. B. (2020). Transcend: The new science of self-actualization. TarcherPerigee.
Wahba, M. A., & Bridwell, L. G. (1976). Maslow reconsidered: A review of research on the need hierarchy theory.Organizational Behavior and Human Performance, 15(2), 212–240.
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