Reizreduktion und neuronale Anpassung: Chancen und Grenzen des „Dopamin-Fastens“
- Mailin Modrack
- vor 5 Tagen
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„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.“
(Viktor E. Frankl)
Eine Klientin berichtete, dass sie nach Feierabend oft sofort ihr Smartphone zur Hand nahm und durch soziale Medien scrollte. Irgendwann stellte sie fest, dass sie kaum noch Freude an einem einfachen Spaziergang empfand. Als sie sich für eine Woche ein „Dopamin-Fasten light“ vornahm, also abends Handy aus, keine sozialen Netzwerke, dafür bewusst Kochen und Lesen, bemerkte sie nach drei Tagen eine deutliche Veränderung. Plötzlich machte ihr das Essen mehr Freude, und sie fühlte sich wacher und ausgeglichener.
Dieses Beispiel verdeutlicht, wie stark unser Belohnungssystem auf Dauerstimulation reagiert. „Dopamin-Fasten“ klingt nach Trendbegriff, meint aber im Kern die bewusste Reduktion von Reizen, um die Empfindsamkeit für alltägliche Erlebnisse wiederherzustellen.
Ein kurzer Blick in die Forschung
Die Neurowissenschaftlerin Nora Volkow und ihr Team (Stanford University, 2019) untersuchten, wie häufige Reizexposition – etwa durch Social Media oder Gaming – die Dopaminrezeptoren beeinflusst. Die Ergebnisse legen nahe: Je öfter unser Gehirn kleine Belohnungen empfängt, desto weniger empfindlich reagieren die Rezeptoren. Biologisch geschieht dabei Folgendes: Jeder Reiz führt zu einer kurzfristigen Dopaminfreisetzung im Nucleus accumbens, einem zentralen Bereich des Belohnungssystems. Bei ständiger Wiederholung passt sich das System jedoch an, die Rezeptoren „desensibilisieren“, und es entsteht das Gefühl von Abstumpfung.
Eine andere Untersuchung von Reinecke & Meier (Universität Konstanz, 2021) fokussierte sich auf digitale Enthaltsamkeit. Teilnehmende verzichteten mehrere Tage bewusst auf Smartphone und soziale Medien. Das Resultat: Schlafqualität und Konzentration verbesserten sich signifikant, während Stresswerte abnahmen. Zudem berichteten viele eine gesteigerte Wertschätzung für einfache Tätigkeiten – von Spaziergängen bis zu persönlichen Gesprächen.
Kritische Beobachtung
Gleichzeitig ist Vorsicht geboten: „Dopamin-Fasten“ wird manchmal missverstanden, als könne man Dopamin komplett „abstellen“. Das ist biologisch unmöglich und auch nicht wünschenswert. Ein Beispiel: Manche Menschen versuchen, über Tage hinweg fast alle angenehmen Aktivitäten zu meiden – selbst soziale Kontakte oder Musik – in der Hoffnung, ihr Gehirn zu „resetten“. Die Folge ist oft nicht Klarheit, sondern Frust und soziale Isolation. Dopamin ist zentral für Motivation, Lernen und Handlungskontrolle. Sinnvoll ist daher nicht ein strenger Entzug, sondern eine flexible Anpassung: Reize reduzieren, um das eigene Belohnungssystem neu zu kalibrieren.
Reflexionsfragen
Welche Routinen in Ihrem Alltag dienen eher der Gewohnheit als dem Genuss?
Wann haben Sie zuletzt eine Pause eingelegt, ohne digitale Ablenkung?
Welche einfachen Tätigkeiten könnten Sie wieder stärker in den Mittelpunkt rücken?
Was wäre ein realistischer erster Schritt für Ihr persönliches „Dopamin-Fasten light“?
Fazit
Dopamin-Fasten ist weniger ein neurobiologischer Eingriff als ein bewusstes Experiment: durch Reizreduktion Räume schaffen, in denen das Gehirn wieder sensibler auf Alltägliches reagieren kann. Entscheidend ist nicht der totale Verzicht, sondern die Balance – eine Einladung zu mehr Klarheit, Ruhe und innerer Flexibilität.
Quellen
Frankl, V. E. (2009). …trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München: Kösel. (Original erschienen 1946)
Reinecke, L., & Meier, A. (2021). Priming social media use and need satisfaction: Effects on stress and sleep. Computers in Human Behavior, 114, 106578. https://doi.org/10.1016/j.chb.2020.106578
Volkow, N. D., Michaelides, M., & Baler, R. (2019). The neuroscience of drug reward and addiction. Physiological Reviews, 99(4), 2115–2140. https://doi.org/10.1152/physrev.00014.2018