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„The Positive Humanities“ – Die Wiederentdeckung der Geisteswissenschaften als Ressource für menschliches Aufblühen



In einer Zeit, in der messbare Effizienz und ökonomischer Nutzen häufig als Hauptmaßstäbe von Bildung und Wissenschaft gelten, geraten die Geisteswissenschaften zunehmend in Erklärungsnot. Warum also Literatur lesen, Kunst betrachten, Philosophie studieren? Die „Positive Humanities“ liefern hierauf eine simple, aber tiefgründige Antwort: weil sie uns helfen, das Leben besser zu verstehen und zu leben – und damit eine interdisziplinäre Perspektive auf die Wissenschaft des gelingenden Lebens darstellen.


Hintergründe:

Das Eintauchen in Kunst, Literatur, Musik, Philosophie und andere Formen von Kultur helfen uns Menschen dabei, als Kinder unsere innere Welt zu erweitern, als Jugendliche lohnende Lebenswege einzuschlagen und als Erwachsene schwierige Erfahrungen zu bewältigen. Sie lassen uns Kreativität spüren und uns auf einer tieferen Ebene mit unserer Gesellschaft verbunden fühlen, was beispielsweise mehr Hoffnung für die fortwährende Arbeit an sozialer Gerechtigkeit ermöglicht.


Das menschliche Wohlergehen soll sowohl als wesentliches Thema im akademischen Umfeld behandelt werden wie auch ein praktisches Ziel der Beschäftigung mit Kunst und Kultur bilden. Deshalb gründete James O. Pawelski die Positiven Geisteswissenschaften (Positive Humanities) und das Humanities and Human Flourishing Projekt (HHF). Hierin fragen Pawelski und Kolleg*innen nach den positiven Auswirkungen von Begegnungen mit Kunst, Kultur und Geisteswissenschaften auf das menschliche Wohlbefinden und nach Möglichkeiten, diese Effekte bewusst herzustellen.


Definition und Zielsetzung:

Die Positiven Geisteswissenschaften sind ein entstehendes Feld der Forschung und Praxis. Sie werden definiert als Bildungs- und Forschungszweig, der die Beziehung zwischen menschlicher Kultur und menschlichem Aufblühen untersucht. Es geht zum einen um eine eudaimonische Wende in den Geisteswissenschaften, also eine Rückbesinnung auf die humanistische Idee, dass Bildung ebenso für die Förderung von individuellem und kollektiven Wohlbefinden wie dem Aufbau von Wissen dienen soll. Außerdem plädiert die positive Geisteswissenschaft dafür, das Akademische und Praktische branchenübergreifend zusammenzubringen.

Pawelski machte fünf Vorschläge, um den Fokus der Geisteswissenschaften auf Eudaimonia zu stärken:

 

1)    wisdom as much as knowledge (Weisheit ebenso sehr wie Wissen): So wie Aristoteles ausführte, dass wir Ethik nicht studieren, um zu wissen was Tugend ist, sondern um selbst tugendhaft zu werden, plädiert Pawelski für das Lernen nicht bloß über, sondern von den Geisteswissenschaften.


2)    collaboration as much as specialization (Kollaboration ebenso sehr wie Spezialisierung): Hierbei ist die Rede von Kollaboration zwischen den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, zwischen den Geisteswissenschaften und anderen Wissenschaften (insbesondere Positiver Psychologie) und zwischen Akademiker*innen und Praktiker*innen.


3)    the positive as much as the negative (das Positive ebenso sehr wie das Negative): Kritische Auseinandersetzungen mit Kunst und Kultur, zum Beispiel durch eine „Hermeneutik des Verdachts” muss durch Wertschätzung und eine „affirmative Hermeneutik” gespeist werden.


4)    effective friction as much as increased efficiency (wirksame Reibung ebenso sehr wie gesteigerte Effizienz): Es sind nicht nur die unmittelbar lukrativsten Beschäftigungen, sondern auch die Geisteswissenschaften, die uns anhaltende Ressourcen für Wohlbefinden und Resilienz bieten. 


5)    the flourishing of humans as much as the flourishing of the humanities (das Gedeihen von Menschen ebenso sehr wie das Gedeihen der Geisteswissenschaften): Dieses Gedeihen von Menschen im Zusammenhang mit geisteswissenschaftlichem Engagement soll zudem empirisch gemessen werden.

 

Forschung:

Seit den ersten Forschungszuschüssen im Jahr 2014 hat sich das Humanities and Human Flourishing Projekt wissenschaftlich etabliert. Hierzu trug maßgeblich die Schaffung eines konzeptionellen Modells bei. Auf die Frage, warum Menschen sich mit Kunst und Kultur beschäftigen, fanden Forschende drei Antworten:

 

1.     Ästhetische Erfahrungen

2.     Individuelles und gesellschaftliches Wachstum

3.     Bedeutungsschöpfung

 

Außerdem erörterten sie, welche Wege von der Beschäftigung mit den Geisteswissenschaften zu positiven Folgen, wie psychischen Kompetenzen, subjektivem Wohlbefinden und sozialem und ethischem Pflichtbewusstsein führen. Forschende identifizieren die sogenannten RAISE-Mechanismen:

 

1. „Reflectiveness“: Reflexion von Gewohnheiten, Werten und Weltbildern

2. „Acquisition“: Erwerb andauernder Einsichten und Fähigkeiten

3. „Immersion“: Eintauchen oder Vertieftsein in die unmittelbare Erfahrung

4. „Socialization“: Sozialisierung für mehr Selbstverständnis und Bewusstsein über die eigene Rolle in der Gesellschaft

5. „Expressiveness“: Ausdrucksfähigkeit der eigenen Gedanken und Gefühle

 

Das Humanities and Human Flourishing Projekt hat sich multidisziplinär ausgebreitet. In Kollaboration mit der Oxford University Press brachten Wissenschaftler*innen acht Sammelbände heraus, welche die Zusammenhänge zwischen bildender Kunst, Film, Geschichte, Literatur, Musik, Philosophie, Religionswissenschaft, Theater und menschlichem Wohlergehen erörtern. Zudem haben Forschende die branchenübergreifende Arbeit begonnen. In der Zusammenarbeit mit Museen, insbesondere dem Philadelphia Museum of Art, wurden zum Beispiel die positiven Auswirkungen des langsamen Betrachtens (slow looking) ergründet und Besucher*innen nähergebracht.

 

Fazit:

Die positiven Geisteswissenschaften können verstanden werden als interdisziplinäre, branchenübergreifende Untersuchung und Optimierung der Beziehung zwischen der Erfahrung, dem Schaffen und dem Studium menschlicher Kultur und der Förderung menschlichen Wohlergehens. Die Kollaboration zwischen Disziplinen und Branchen kann neue Zugänge zu unserer bunten, melodischen Welt öffnen und somit zu einem tieferen Verständnis von gelingendem Leben beitragen. 

 

Quellen

 

Pawelski, J. O. (2021). The Positive Humanities: Culture and Human Flourishing. In L. Tay & J. O. Pawelski (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Positive Humanities (S. 17-41).

 

Pawelski, J. O. (2022). The Positive Humanities: A Focus on Human Flourishing. Daedalus, 151(3), 206-221. https://www.jstor.org/stable/10.2307/48681154

Stuhr, J. J. (Hrsg.). (2022). Philosophy & Human Flourishing. New York: Oxford University Press.

 

Tay, L. & Pawelski, J. O. (2021). Introduction: The Role of the Arts and Humanities in Human Flourishing. In L. Tay & J. O. Pawelski (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Positive Humanities (S. 3-16).

 

Tay, L., Pawelski, J. O., & Keith, M. G. (2018). The role of the arts and humanities in human flourishing: A conceptual model. The Journal of Positive Psychology, 13(3), 215-225. https://doi.org/10.1080/17439760.2017.1279207

 

Shim, Y., Tay, L., Ward, M., & Pawelski, J. O. (2019). Arts and humanities engagement: An integrative conceptual framework for psychological research. Review of General Psychology, 23(2), 159–176. https://doi.org/10.1177/1089268019832847

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