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Die Psychologie des Unbewussten: Vorurteile unserer Wahrnehmung


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„Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie wir sind.“

(Anaïs Nin; Talmud)


Stellen Sie sich vor, Sie führen ein Bewerbungsgespräch. Der Bewerber tritt gepflegt, freundlich und souverän auf. Noch bevor Sie seine Unterlagen geprüft haben, erscheint er Ihnen kompetent. Sie sind ohne seine Qualifikation zu hinterfragen positiv gestimmt, dass er ein geeigneter Kandidat sein könnte.


Denken Sie an eine weitere Situation: Sie scrollen durch soziale Medien und stoßen auf einen Artikel, der genau Ihre politische Meinung widerspiegelt, zum Beispiel zur Klimapolitik, zur aktuellen Bundesregierung oder zum Krieg in Nahost. Sie lesen ihn aufmerksam und teilen ihn vielleicht sogar, während Sie Beiträge mit einer gegenteiligen Sicht schnell wegklicken.


Diese alltäglichen Szenen haben eines gemeinsam: Ihre Wahrnehmung ist nicht völlig neutral. Urteile entstehen oft, bevor alle relevanten Informationen und Perspektiven vorliegen. Dieses blitzschnelle kognitive Werten, das häufig mit Fragen von Zustimmung oder Ablehnung einhergeht, ist zutiefst menschlich und evolutionär geprägt. Bestätigende Eindrücke erhalten mehr Gewicht als widersprechende. Wissenschaftlich gesehen haben Sie für unser Gehirn eine höhere Valenz, werden also als angenehmer empfunden und tiefer verarbeitet.

Das wirft jedoch auch Fragen auf: Wie oft lassen Sie sich vom ersten Eindruck leiten? Suchen Sie gezielt nach Informationen, die Ihren Standpunkt hinterfragen?


Unconscious Biasbezeichnet in der Psychologie systematische Denk- und Wahrnehmungsverzerrungen. Sie entstehen unbewusst und führen dazu, dass Informationen selektiv wahrgenommen, interpretiert und erinnert werden. Der Begriff umfasst eine Vielzahl an Mustern, die das Urteilsvermögen prägen, ohne dass dies bewusst geschieht (Wason, 1960).


Doch warum gibt es diese Wahrnehmungsverzerrungen überhaupt? Aus evolutionärer Sicht sind diese mentalen Abkürzungen, sogenannte Heuristiken, ein Überlebensvorteil. In einer komplexen Welt helfen sie, schnell Entscheidungen zu treffen, ohne jedes Detail analysieren zu müssen. Vor zehntausenden Jahren konnte eine schnelle Einschätzung über Leben und Tod entscheiden. Begegneten Sie vor 10.000 Jahren einem Mammut, hat Sie Ihr Instinkt sofort zur Flucht bewogen. Heute führt diese Schnelligkeit jedoch häufig zu systematischen Fehlern, besonders in Situationen, die eine sorgfältige Abwägung erfordern.


Einer der gängigen Bias in der (Positiven) Psychologie ist der Negativity Bias, der die Tendenz beschreibt, negativen Informationen, Ereignissen oder Emotionen mehr Gewicht zu geben als positiven (Baumeister et al., 2001). Evolutionsbiologisch betrachtet erhöhte die stärkere Reaktion auf Gefahren die Überlebenschancen. In der Positiven Psychologie bildet das Verständnis dieses Effekts eine Grundlage für Interventionen, die positive Erfahrungen gezielt verstärken, etwa durch Dankbarkeitsübungen oder das bewusste Wahrnehmen kleiner Erfolge (Fredrickson, 2004).


Ein weiterer sehr bekannter Mechanismus ist der Confirmation Bias. In den 1960er-Jahren zeigte der Psychologe Peter Wason, dass Menschen Hypothesen vor allem durch bestätigende Informationen stützen, statt aktiv nach Gegenbeweisen zu suchen. In seinen Experimenten überprüften Teilnehmende selbst einfache Regeln nur mit Beispielen, die ihre Annahmen stützten, und übersahen dadurch häufig die korrekte Lösung. Häufig zeigt sich der Confirmation Bias in gesellschaftlichen und politischen Debatten.


Ein weiteres Beispiel ist der Halo-Effekt. Edward Thorndike beschrieb ihn 1920 anhand von Bewertungen von Armeeoffizieren. War ein Offizier in einer Eigenschaft positiv bewertet, etwa im Erscheinungsbild, neigten die Vorgesetzten dazu, auch andere Eigenschaften wie Führungsstärke oder Intelligenz überdurchschnittlich einzuschätzen. Ähnliche Effekte treten bis heute in Mitarbeiterbeurteilungen und im Marketing auf.


Der Authority Bias beschreibt die Tendenz, Aussagen von Autoritätspersonen mehr Glauben zu schenken als neutralen Quellen, unabhängig vom tatsächlichen Inhalt. Die Gehorsamsexperimente von Stanley Milgram in den 1960er-Jahren zeigten, wie stark Menschen den Anweisungen einer Autorität folgen, selbst wenn dies moralisch hoch fragwürdig ist.


Auch der sogenannte Physical Attractiveness Stereotype gilt als eher gängige Wahrnehmungsverzerrung. Attraktive Menschen werden häufig als intelligenter, kompetenter und sympathischer wahrgenommen. Eine Meta-Analyse von Langlois et al. (2000) belegt, dass attraktive Personen in vielen sozialen Kontexten positivere Bewertungen erhalten. Selbst im juristischen Bereich erhielten attraktivere Angeklagte im Durchschnitt mildere Strafen.


Wie stark sich solche Effekte im Alltag auswirken, verdeutlicht die Meta-Analyse von Malouff und Thorsteinsson (2016). Sie zeigte systematische Unterschiede in der Bewertung von Schülerleistungen. Lernende mit als ungünstig empfundenen Merkmalen erhielten bei identischer Leistung im Schnitt deutlich schlechtere Noten, teilweise fast eine ganze Stufe.


Gerade im beruflichen Umfeld können unbewusste Verzerrungen gravierende Folgen haben. Bei der Personalauswahl, der Leistungsbewertung oder in medizinischen Entscheidungen kann ein unerkannter Bias zu ungerechten und ineffizienten Ergebnissen führen. Deshalb ist bewusste Reflexion entscheidend. Strukturierte Bewertungsverfahren, anonymisierte Prüfungen, gezieltes Suchen nach widersprechenden Informationen und Schulungen zur Sensibilisierung sind wirksame Ansätze, um den Einfluss kognitiver Verzerrungen zu verringern. Denn erst, wenn blinde Flecken im Denken erkannt werden, können Entscheidungen fair und fundiert getroffen werden.



Quellen


Baumeister, R. F., Bratslavsky, E., Finkenauer, C., & Vohs, K. D. (2001). Bad is stronger than good. Review of General Psychology, 5(4), 323–370. https://doi.org/10.1037/1089-2680.5.4.323


Fredrickson, B. L. (2004). The broaden-and-build theory of positive emotions. Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Series B: Biological Sciences, 359(1449), 1367–1377. https://doi.org/10.1098/rstb.2004.1512


Langlois, J. H., Kalakanis, L., Rubenstein, A. J., Larson, A., Hallam, M., & Smoot, M. (2000). Maxims or myths of beauty? A meta-analytic and theoretical review. Psychological Bulletin, 126 (3), 390-423. https://doi.org/10.1037/0033-2909.126.3.390


Malouff, J. M., & Thorsteinsson, E. B. (2016). Bias in grading: A meta-analysis of experimental research findings. Australian Journal of Education, 60 (3), 245-256. https://doi.org/10.1177/0004944116664618


Milgram, S. (1963). Behavioral study of obedience. Journal of Abnormal and Social Psychology, 67 (4), 371-378. https://doi.org/10.1037/h0040525


Thorndike, E. L. (1920). A constant error in psychological ratings. Journal of Applied Psychology, 4 (1), 25-29. https://doi.org/10.1037/h0071663


Wason, P. C. (1960). On the failure to eliminate hypotheses in a conceptual task. Quarterly Journal of Experimental Psychology, 12 (3), 129-140. https://doi.org/10.1080/17470216008416717



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