Prof. Dr. Haidt benennt auf dem 6. Weltkongress für Positive Psychologie in Melbourne die nach seiner Meinung nach drei großen Unwahrheiten, die uns daran hindern, mehr Glück zu empfinden und uns sogar krankmachen können.
An erster Stelle nennt er die Auffassung, dass das, was uns nicht umbringt, macht uns zumindest krank.
Als zweite Unwahrheit benennt er, dass man immer seinen Gefühlen trauen soll. Das ist falsch, weil die Menschen allzu sehr geneigt sind, emotional zu urteilen und Vorurteilen nachzugeben. Als dritte Unwahrheit stellt er in den Raum, dass das Leben ein Kampf zwischen guten und bösen Menschen sei. Das ist u.a. falsch, weil wir anfällig für Tribalismus und dichotomisches Denken sind.
Er fordert die Positiven Psychologen von der Bühne des 6. Weltkongresses der International Positive Psychology Association auf, sich mit diesen Unwahrheiten auseinander zu setzen und diese zurückzuweisen.
Auf die erste von Dr. Haidt benannte Unwahrheit, auf die er in seinem Vortrag iausführlicher eingegangen ist, soll hier besonders Bezug genommen werden. Sie hat nach seiner Ansicht in den vergangenen Jahren eine weite Verbreitung besonders in den englischsprachigen westlichen Ländern gefunden. Die Tatsachen sprechen nach seiner Meinung aber dafür, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Richtig ist daher: Was uns nicht umbringt, macht uns stark.
Für seine Beweisführung führt Dr. Haidt den Begriff „antifragil“ bzw. „Antifragilität“ ein, der von Nassim Nicholas Taleb geprägt wurde. Der Begriff erfasst Systeme, die unter Druck und Belastung besser und leistungsfähiger werden; Dinge, die von fehlender Ordnung profitieren. Danach geht Antifragilität über Resilienz und Robustheit hinaus. Ein resilienter Mensch wiedersteht beispielsweise einem Schock und kommt danach zum ursprünglichen Zustand zurück. Eine antifragile Person verarbeitet den Schock so, dass sie an dem betreffenden Ereignis wächst.
Im besonderen Maße spricht Dr. Haidt Kindern die Veranlagung zu, antifragil zu sein. Sie besitzen in besonderem Maße die Fähigkeit, gerade auch negative Erfahrungen und Rückschläge im Wachstumsprozess zu verarbeiten und für ihre Entwicklung zu nutzen.
Nach Auffassung von Dr. Haidt sorgt aber gerade die überzogene elterliche Fürsorge in der Gruppe der Länder, in denen er Daten für seine empirischen Untersuchungen erhoben hat, dafür, dass diese Kinder in ihrer geistigen Entwicklung zurückbleiben, verweichlichen und in bestimmten Fällen sogar psychisch erkranken.
Vor 1982 konnten Kinder in den Vereinigten Staaten mit 6 bis 8 Jahren allein aus dem Haus gehen und ihre Pläne verfolgen. In der späteren sogenannten Z-Generation – Jahrgänge, die nach 1996 geboren wurden – dürfen immer mehr Kinder erst zwischen 10 und 14 Jahren allein die elterliche Wohnung verlassen. Sie werden davor zum Sport oder anderen Freizeitaktivitäten von den Eltern gebracht und wieder abgeholt. Das hat zur Folge, dass viele Kinder im Alter zwischen 8 und 12 die wirkliche Welt nicht kennen lernen und keine altersgemäßen Abenteuer erleben. In dieser Altersgruppe benötigt das Gehirn aber ständig neue Anregungen, um die Nervenzellen effektiv verschalten zu können und so zukünftigen Anforderungen gewachsen zu sein.
Gerade selbstständiges Spielen und das Eingehen von Risiken entwickelt die Instinkte und die Kompetenzen, die Kinder brauchen, um sich später in der Welt der Erwachsenen orientieren zu können, zu wissen, was wirklich riskant ist und was nicht, sowie die Fähigkeit zu erlangen, Glück zu empfinden. Kinder lernen beim Spielen Entscheidungen zu treffen, ihre Gefühle zu kontrollieren, Freundschaften zu schließen und Freude zu empfinden.
Neben einer übertriebenen und damit letztlich konterproduktiven elterlichen Fürsorge verschärfen nicht zuletzt die sozialen Medien die zunehmende soziale Isolation junger Menschen der Z-Generation in den untersuchten Ländern.
So hat sich die Zahl der Jugendlichen in den von ihm untersuchten Nationen, die mit 18 eine Fahrerlaubnis gemacht haben, deutlich verringert. Abgenommen hat auch die Anzahl der jungen Menschen, die heimlich Alkohol probiert oder sich im Dunkeln auf den Weg zu einer Verabredung gemacht haben.
Mit all diesen Entwicklungen ist der Verlust von Lebenserfahrungen verbunden, die die Jugendlichen in der Vergangenheit bereichert haben. Die Zahl derartiger kindlicher „Abenteuer“ in der genannten Altersgruppe nimmt immer weiter ab. Dazu im Gegensatz nehmen psychische Probleme deutlich zu. Das betrifft in erster Linie Angstzustände und Depressionen. Dabei ist bemerkenswert, dass die enorme Steigerungsrate in erster Linie die Mädchen betrifft. Besonders deutlich wird das an den Zahlen von weiblichen Heranwachsenden, die in Krankenhäuser eingeliefert werden, weil sie sich selbst verletzt haben.
Diese Zahlen steigen nach 2009 in der Altersgruppe zwischen 15 und 19 Jahren um 62 %. Der Prozentsatz der Mädchen in der Altersgruppe 10 - 14, die sich selbst verletzen, ist sogar um 189 % gestiegen. Bei den Mädchen aus der Generation Y – diejenigen, die zwischen 1982 und 1996 geboren wurden -, gibt es nur eine Steigerung von 17 %. Die Selbstmordrate von Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren ist zwischen 2001 und 2010 sogar um 151 % gestiegen. Studentinnen der Generation Z haben darüber hinaus eine extrem hohe Rate von Depressionen.
Dr. Haith unterstreicht, dass in dem genannten Zeitraum anders als Stress oder Beziehungsprobleme nur Angst und Depression deutlich gestiegen sind. Er sieht dafür eine direkte zeitliche Übereinstimmung zwischen der Entwicklung der sozialen Medien und dem Anwachsen psychischer Probleme unter Jugendlichen. So wird
Facebook 2006 allgemein zugänglich. 2007 kommt das iPhone auf den Markt. 2009 führt Facebook den „Like“-Button ein. Damit wird eine neue Qualität erreicht. Diese Jahreszahlen korrelieren mehr als deutlich mit den oben genannten Wachstumsraten von Selbstverletzungen, der Zunahme von Depressionen und steigenden Suizigraten unter Jugendlichen.
Zwischen 2009 und 2011 verändern viele Jugendliche in den USA ihr Leben und ziehen sich in die Welt der sozialen Medien zurück. Dabei nutzen Mädchen die sozialen Medien häufiger als Jungs und setzen sich mehr dem Druck des sozialen Vergleichs aus. Jungs und Mädchen sind hinsichtlich ihrer Anlagen gleichermaßen aggressiv. Dabei ist die Aggressivität von Mädchen beziehungsbezogen.
Mädchen, die viele Stunden am Tag soziale Medien nutzen, haben deutlich höhere Raten von Depressionen als diejenigen, die das nur eine kurze Zeit tun. Ihr Glücksempfinden nimmt dadurch großen Schaden.
Dr. Haidt leitet daraus drei Empfehlungen ab: 1. Alle Bildschirmgeräte sollten ab einer bestimmten Uhrzeit aus dem Kinderzimmer verbannt sein. 2. Kein Zugang zu sozialen Medien vor der achten, besser vor der zehnten Klasse. 3. Festlegung eines Zeitbudgets für die Nutzung von entsprechenden Geräten.
Auf der anderen Seite muss positive Kinderentwicklung den Heranwachsenden mehr unkontrollierten Freiraum einräumen, ihnen gestatten, auch bestimmte Risiken einzugehen und Fehler zu machen. Positive Erziehung von Kindern sollte darüber hinaus sicherstellen, dass es auch „schlechte“ Erfahrungen gibt, um daraus zu lernen und stärker zu werden.
Die Positive Psychologie ist mit den von Dr. Haith aufgeworfenen Problemfeldern vor neue Fragen gestellt.
Quellen:
Greg Lukianoff & Jonathan Haidt, The Coddling of the American Mind, Penguin Press, New York, 2018
Nassim Nicholas Taleb, Antifragile: Things that Gain from Disorder, Penguin Press, New York, 2013
Comments